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Titel
Eisen und Blut. Die Geschichte der deutschsprachigen Länder seit 1500


Autor(en)
Wilson, Peter H.
Erschienen
Darmstadt 2023: wbg
Anzahl Seiten
991 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herfried Münkler, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Man mag darüber spekulieren, was den Verlag dazu veranlasst hat, Wilsons Buch, das im englischen Original den Untertitel „military history“ trägt, im Deutschen als bloße „Geschichte“ daherkommen zu lassen: Weil das berühmte Bismarckzitat im Haupttitel hinreichend deutlich mache, dass es um eine Militärgeschichte geht? Oder weil man für „Militärgeschichte“ eine geringere Aufmerksamkeit des Publikums erwartete als für „Geschichte“ allgemein? Dabei ist es gerade die Militärgeschichtsschreibung, an der es in Deutschland hapert. Und tatsächlich handelt es sich bei Wilsons Buch wesentlich um Militärgeschichte, auch wenn den nach dem jeweiligen Jahrhundert gegliederten Kapiteln durchweg allgemeingeschichtliche Überblicke vorangestellt sind. Doch dienen diese nur dazu, die politischen Entwicklungen zu umreißen, deren militärgeschichtlicher Unterbau nachfolgend detailliert dargestellt wird. In den einführenden Abschnitten spielt auch die Kriegsgeschichte eine Rolle, aber auch sie hat für das Buch nur eine nachgeordnete Funktion; der Gegenstand der Darstellung und Analyse, das zentrale Thema des Buches, ist die Organisation des Kriegswesens, die Art der Rekrutierung des Militärs, dessen Finanzierung und Organisation, die Taktik im Gefecht und die dabei eingesetzten Waffen, der statistische Anteil der Soldaten an der Gesamtbevölkerung eines Raumes, deren Stellung innerhalb der Gesellschaft usw. – also Militärgeschichtsschreibung auf der Grundlage soziologischer, nicht zuletzt organisationssoziologischer Beobachtungen.

Im Hintergrund von Wilsons Darstellung steht die von ihm entschieden nicht geteilte Vorstellung, die Deutschen seien seit jeher ein von bellizistischen Obsessionen und militaristischem Gehabe geprägtes Volk gewesen, das erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einen Prozess der Demilitarisierung und Pazifizierung hineingezwungen worden sei. Man kann Wilsons Buch als eine eminent kenntnisreiche Verabschiedung dieses Klischees lesen. Allenfalls für Preußen seit der Regierung Friedrich Wilhelms I., des so genannten „Soldatenkönigs“, will er diese Vorstellung gelten lassen. Aber auch hier nur eingeschränkt, weil die empirische Untersuchung das so nicht hergibt und das preußische Militär bis weit ins 19. Jahrhundert hinein quantitativ dem kaiserlichen bzw. österreichischen Militär nicht gleichkam, also keineswegs der Prägestempel für das deutsche Militär und die deutsche Gesellschaft war. Es ist für Wilson darum auch falsch, die deutsche Geschichte als ein untergeordnetes Begleitkapitel der preußischen Geschichte anzugehen, und schon ganz und gar falsch ist es in seiner Sicht, die deutsche Gesellschaft sub specie borussiae zu betrachten. Wer das tue, sei ein Opfer jener proborussischen Historiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von denen die Einigung Deutschlands durch Preußen als Ziel und Vollendung der deutschen Geschichte präsentiert worden sei. Deren Einfluss sei bis in die Vorstellung vom „deutschen Sonderweg“ vorherrschend geblieben und dementsprechend ist Wilsons Darstellung der deutschen Militärgeschichte als eine großangelegte, immer wieder empirisch abgestützte und komparativ reflektierte Verabschiedung dieser Sonderwegstheorien angelegt, jedenfalls dort, wo diese sich aufs Militärische oder Bellizistische konzentrieren.

Wilson schreibt eine Militärgeschichte „der deutschsprachigen Länder“, was heißt, dass neben den genuin habsburgischen Territorien, dazu den Reichsgebieten von den Kurfürstentümern bis zu den Reichsstädten, auch die zu Beginn des Darstellungszeitraums aus dem Reich Schritt für Schritt ausgeschiedene Schweiz einen immer wieder ausführlich traktierten Schwerpunkt seiner Darstellung bildet. Im Allgemeinen wird mit der Schweiz politische Neutralität und der Verzicht auf militärische Expansionsvorhaben (jedenfalls seit der Schlacht von Marignano 1515) assoziiert. Wilson nun zeigt, dass der eidgenössische Verbund der Kantone aufgrund seines während des gesamten Beobachtungszeitraums aufrechterhaltenen Milizsystems strukturell der am höchsten militarisierte Raum der deutschsprachigen Länder war und dass die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts praktizierte Politik der Kantone, Söldner für die europäischen Nachbarn (vorzugsweise Frankreich) zu stellen, eine Strategie militärpolitischer Bündnisse war, die als Stütze der Neutralität angesehen und eingesetzt wurde. Im statistischen Vergleich mit der Schweiz war Preußen ein mithin „untermilitarisierter“ Raum.

Nun ist freilich die Bezeichnung „deutschsprachige Länder“ als geografische Abgrenzung des Untersuchungsraums nicht unproblematisch, da seit der habsburgischen Übernahme der Wenzels- und Stephanskrone mit Ungarn, Kroatien, Böhmen und Mähren auch in nicht deutschsprachigen Räumen habsburgisches Militär rekrutiert wurde – was auch für Preußen spätestens seit den Teilungen Polens gilt. Man kann Wilsons Buch darum als eine Militärgeschichte des mitteleuropäischen Raumes lesen – wobei nicht übersehen werden sollte, dass auch italienische Territorien zum habsburgischen Herrschaftsraum gehörten. Aber bei einem solchen mit Blick auf den behandelten Raum korrekteren Titel wäre die Stoßrichtung Wilsons gegen die borussische Teleologie einer im engeren Sinn Deutschland betreffenden Militärgeschichtsschreibung undeutlich geworden, und um die ging es Wilson ja vor allem.

Dabei konzentriert er sich im Übrigen keineswegs nur auf die Außengrenzen des deutschsprachigen Raumes, sondern legt auch großes Gewicht auf die Militärorganisation innerhalb des Reiches, und dabei vor allem auf die Länder, die weder zu den Habsburgern noch zu den Hohenzollern gehörten: auf Württemberg und Bayern vor allem, aber auch auf Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel (Kurhessen), auf Braunschweig-Wolfenbüttel sowie die Kurfürstentümer am Rhein. Sie waren bis zum Ende des Reichs miteinander in einem System der kollektiven Sicherheit verbunden, das Wilsons Darstellung zufolge gut funktionierte, bis es von Napoleon zerschlagen wurde. Zu diesem System gehörte auch eine Anlehnung an die Schweizer Praxis, Bündnispolitik mit Mächten außerhalb des Reichs durch die Vermietung von Truppen an diese zu pflegen, womit ein Geflecht von Allianzen und Loyalitäten entstand, das einem geschlossenen Auftreten des Reichs als ein mächtiger Akteur von vornherein entgegenstand. Das heißt aber nicht, dass die einzelnen Mächte innerhalb des Reichs entwaffnet und hilflos gewesen wären. Durch die Bereitstellung und Vermietung von Regimentern agierten auch sie militärisch über die Reichsgrenzen hinaus.

Wilsons Geschichtsbild ist weniger durch technologische Sprünge und strategische Innovationen als durch lange Kontinuitäten und eine insgesamt langsame Entwicklung mit Vor und Zurück geprägt. Das Theorem einer „militärischen Revolution“ im Verlauf des 16. Jahrhunderts hält er für eine Überzeichnung von allmählich voranschreitenden Veränderungen, und die Vorstellung, wonach Zeiten des Krieges oder der militärischen Aufrüstung immer auch Zeiten gewaltiger Gewinne von Rüstungsunternehmen gewesen seien, findet er anhand der Absatzzahlen von Rüstungsgütern und der Bilanzen einschlägiger Unternehmen nicht bestätigt. Eher geht er davon aus, dass Rüstungsunternehmen (die Hersteller von Arkebusen und Musketen in der frühen Neuzeit eingeschlossen) schon immer auch für auswärtige Märkte produzieren mussten, um wirtschaftlich durchhalten zu können. Darin erging es ihnen nicht anders als den Landesherrn, die ihre Truppen an fremde Mächte vermieten mussten, um sich dauerhaft ein schlagkräftiges Militär leisten zu können. Und schließlich ist Wilson auch skeptisch gegenüber der Vorstellung, wonach das deutsche Militär in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs eine strategisch besonders leistungsfähige Armee gewesen sei: Es habe allenfalls in operativer Hinsicht geglänzt, wenig bis gar nicht strategisch gedacht und im Wesentlichen von den Fehlern seiner Kontrahenten profitiert. Das ist in dieser Zuspitzung ein weiteres Element von Wilsons Grundthese, wonach es falsch sei, in der deutschen Militärgeschichte einen international besonderen Fall militärischer Aggressivität, aber auch Leistungsfähigkeit zu sehen. Die zwei umfassenden Niederlagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören dann ebenfalls zur Entwicklungsnormalität des Militärwesens in den deutschsprachigen Ländern.

Das Buch ist ein „Muss“ für alle, die sich mit der Militärgeschichte des mitteleuropäischen Raums beschäftigen, und eine lohnenswerte Lektüre für jene, die mit der Geschichte des Reichs vom späten Mittelalter bis zu seinem Ende Anfang des 19. Jahrhunderts befasst sind. Ein paar kleinere Fehler und Fehleinschätzungen lassen sich bei einer Nachauflage leicht korrigieren: So war der preußische König Friedrich Wilhelm IV. nicht der Vater, sondern der Bruder seines Nachfolgers Wilhelms I. (S. 481 und 530), und das Luthertum war in Preußen nach dem Übertritt der Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis keineswegs mehr die Staatsreligion (S. 446f.). Aber das sind bei bald eintausend Seiten Darstellung und Apparat Kleinigkeiten.

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